D. Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam

Cover
Titel
Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit


Autor(en)
Gugerli, David
Erschienen
Frankfurt am Main 2018: S. Fischer
Anzahl Seiten
251 S.
Preis
€ 24,00
von
Caspar Clemens Mierau

Technikhistorische Computergeschichten erzählen nur zu oft, wie der Computer in die Welt kam. David Gugerli, Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich, hingegen beginnt bereits im ersten Satz mit einer Irritation: Sein Buch werde stattdessen berichten, wie die Welt in den Computer kam. So unscharf dieses Vorhaben zunächst scheint, klärt sich das Ziel in der Einleitung. Die Monografie spürt der Nutzbarmachung des Computers nach. Sie negiert damit die übliche Geschichte erfolgreicher Technikpioniere und retrospektiv logisch erscheinender Abfolgen technischer Entwicklungen, die den Computer zu einem immer schnelleren, kleineren und ubiquitären technischen Artefakt machten. Im Fokus steht vielmehr der Umzug der analogen in die digitale Welt des Computers.

Das quellenreiche Buch fokussiert sich auf die Sichtung zeitgenössischer Schriften, die die Verständigungsarbeit um die Planung, Diskussion und Umsetzung von Computertechnologien und -projekten offenlegen. Als Hauptquelle dienen die Bestände der Association for Computing Machinery (ACM). Zudem werden verschiedene, teils kurzweilige historische Werbeprospekte auf ihre Versprechen und Darstellungsformen hin untersucht.

In sieben Kapiteln entfaltet sich eine Geschichte der Digitalisierung in einem Zeitraum von den frühen 1950er bis in die 1980er Jahre. Der Autor legt auf dieser Strecke einige, wie er es selbst nennt, Überraschungen frei, die auch am Ende noch einmal kurz zusammengefasst werden:

1. Das Rechnen selbst verschwindet im Rechner. Anhand verschiedener Quellen lässt sich zeigen, dass es in der Frühphase kommerzieller Computer kaum Bedarf am automatisierten Rechnen gab, denn diese Tätigkeit war bereits gut im Büroalltag integriert. So ist es kein Zufall, dass IBM in Frankreich den Namen «ordinateur» – Ordner – entwickeln lässt, denn das Sortieren von Daten scheint die vielversprechendere Aufgabe, während das Rechnen in der Blackbox des Computers verschwindet.
2. Immer wieder unterschätzt hat man bei der Entwicklung des Computers den Aufwand für die notwendige Formatierung der Umwelt. Den grössten Teil der Arbeit machte oft nicht das Programmieren oder Prozessieren, sondern das Vorbereiten von Daten, so dass diese überhaupt erst ihren Weg in den Computer finden konnten. Dabei gab der Computer die notwendige Struktur vor, die nicht nur Auswirkung auf die Erhebung und Verwaltung von Daten, sondern ganze Organisationsstrukturen hatte. Anhand dreier aufschlussreicher Fallbeispiele – der Digitalisierung der Verwaltung des Kneipp-Kurorts Bad Wörishofen, dem gescheiterten Ubisco-Grossprojekt der Schweizer Bankgesellschaft und der Einführung elektronischer Fahndungshilfen beim deutschen Bundeskriminalamt – wird gezeigt, wie Digitalisierungsprojekte weit umfassendere Umstellungen erforderten, als zunächst angenommen wurde. Je nach Anpassungsfähigkeit der Organisationen endeten diese Umstellungen entweder erfolgreich oder katastrophal.
3. Im Betriebssystem lassen sich Politik und Ökonomie des digitalen Raums aufzeigen: Ab den 1960ern ermöglicht das Time-Sharing-Verfahren eine optimierte Auslastung von Computeranlagen durch den Mehrbenutzerbetrieb. Hierfür muss das Betriebssystem Ressourcen und Nutzerrechte verwalten und zuteilen, um kostspielige Rechenzeit optimal nutzbar zu machen.
4. Die Mission Control der NASA ist das Extrembeispiel der Synchronisation des Computers mit der Aussenwelt. Es zeigt sich, dass Computer durch eine weitreichende Peripherie entlastet werden müssen, um real time arbeiten zu können. Zugleich bietet die NASA ein umfassendes Modell von Überwachung, Kontrolle und Steuerung und bringt mit einem heterogenen digitalen Mediendispositiv zugleich das Bild des Mondes auf die Erde.
5. In den 1970er Jahren bildet sich ein Flickenteppich an Netzwerken heraus, wobei kein Hersteller das Wettrennen um eine Standardisierung der Netzwerkprotokolle gewinnt. Erst mit TCP/IP, das sich nur auf die Vernetzung heterogener Netze spezialisiert und lokale Netze den Betreibern überlässt, findet sich eine weltweit akzeptierte Lösung. Ähnlich strukturiert ist die Entwicklung der Speicher, die den Computer zu einem Verbund verschiedener Speicher werden lässt, bei welcher der Hauptspeicher von einem Makel als notwendiges Hilfssystem zu Überbrückung langsamer Peripherie zu dessen wichtigstem Element wird.
6. Entgegen einer verbreiteten Erzählung kalifornischer Gegenkultur war der Personal Computer zunächst keine Verschiebung von Hobby und Heim in den Rechner, sondern ein Werkzeug zur Verlagerung kleiner, alltäglicher Büroarbeiten in mit Mikroprozessoren ausgestatteten Maschinen, die sich von den grossen, vernetzten Datenverarbeitungsanlagen abgrenzten.

Am Ende der Erzählung steht die am CERN entwickelte Verlinkungstechnologie des World Wide Web als Methode gegen das Vergessen institutionellen Wissens. Mit dieser Episode schliesst Gugerli und unterstreicht, dass es Zufall sei, dass zu diesem Zeitpunkt auch andere Epochenwechsel stattfinden. Der Umzug der Welt in den Computer ist mit dem World Wide Web abgeschlossen. Der Frage nach der Autonomie des Digitalen zum Beispiel in Suchmaschinen und für Menschen kaum noch verständlichen IT-Systeme, die sich ab den 1990ern stellt, will das Buch nicht mehr nachgehen, zeigt sie aber als möglichen Anschlusspunkt auf.

Im Kanon technikhistorischer Computergeschichten ist das vorliegende Buch besonders hervorzuheben. Die quellenreiche, essayistisch geschriebene Studie erweitert den Diskurs durch einen Perspektivwechsel. Dabei bewegt sie sich von einer reinen Computergeschichte hin zu einer Digitalisierungsgeschichte, ohne jedoch die Hardware aus dem Auge zu verlieren. Besonders hervorzuheben sind die Fallstudien, die das Buch um konkrete Einsichten bereichern und theoretische Überlegungen mit praktischen Erfahrungen kontrastieren. Diese Mischung aus historischer Techniksoziologie und dem Herausarbeiten technischer Details entspricht vielleicht nicht den Erwartungen an eine stringente Technikhistorie, verspricht dafür aber eine nachhaltig anregende Lektüre.

Zitierweise:
Mierau, Caspar Clemens: Rezension zu: Gugerli, David: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 508-509. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit